Der schlesische Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann wurde im November 1862, also vor 150 Jahren in Ober Salzbrunn geboren. Dass Hauptmann nicht vergessen ist, beweisen Gedenkfeiern unter anderem im Gasteig München und in der Staatsbibliothek in Berlin . Der deutsche Generalkonsul in Breslau, Dr. Gottfried Zeitz, und der Vorstand der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Niederschlesien e.V. haben aus Anlass des 150. Geburtstages des Schriftstellers zu einer Festveranstaltung eingeladen. Die Festrede hielt Prof. Dr. hab Wojciech Kunicki, ein bekannter polnischer Germanist. Im Rahmen der Feier wurde zudem der Film Gerhart Hauptmann Nobelpreisträger aus dem Riesengebirge uraufgeführt. Außerdem hat das offizielle Deutschland eine Sonderbriefmarke und einer 10 Euro Sondermünze zu Ehren Hauptmanns ausgegeben.
Die Literaturszene in Deutschland hat um den Jahrestag freilich nicht besonders viel Aufhebens gemacht. Hauptmann ist also nicht vergessen, aber ein bisschen aus der Mode gekommen. Leider war es mir nicht möglich, in Breslau dabei zu sein. Aber die Einladung hat genügt, um meine Erinnerung an den Dichter aufzufrischen. Und so habe ich den Bahnwärter Thiel, Die Weber und den Biberpelz, Lektüren aus längst vergangenen Zeiten im Gymnasium, aus dem Bücherschrank hervorgekramt und an einigen Abenden mit wachsendem Interesse darin geschmökert.
Nun bin ich kein Experte, kein Germanist, der sich mit den literarischen Qualitäten des Hauptmannschen Werkes auseinandersetzen oder gar ein Urteil über dessen literarischen Rang erlauben kann. Zu Hauptmann, seinem Leben und der Rezeption seines Oevres haben sich viele kompetente Experten, auch kritisch, geäußert. Mit Schiller (Wallensteins Lager) könnte man auch von Hauptmann sagen: Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Das mögen einige kontroverse Zitate unter Beweis stellen:
So schreibt Hans von der Hülsen im Nachwort zum Bahnwärter Thiel (Reclam, Stuttgart, 1965, Seite 51, 58): Es würde unseres Volkes wahrhaft würdig sein, wenn es seine großen Dichter geruhig am sausenden Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid weben ließe, ohne sie in das Prokrustesbett einer mehr oder minder künstlichen Beziehung zur Zeit zu zwängen, wie das im Falle Hauptmann in der Ära des kaiserlichen Deutschland und in der nachfolgenden Zeit und auch nach seinem Tod allzu oft versucht wurde. Und weiter: So meinen wir, dass heute, vier Jahrzehnte später, Hauptmanns Werk längst in die Liebe der Nation gebettet ist, in der es sicher ruht, wie die großen Schätze deutscher Dichtung seit ihrem Anbeginn bis auf unsere Tage.
Differenziert äußern sich andere Autoren, so Golo Mann (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. Fischer Verlag, 19. Auflage der Sonderausgabe, Frankfurt am Main, 1987, Seite, 571)
..so durchlebte Gerhart Hauptmann die Periode Wilhelms II. von Anfang bis zu Ende, und dann noch die republikanische, und dann noch eine andere, und fand in jeder wohl oder übel seinen Platz. Unter den Hohenzollern war er Gegner gewesen, jetzt war er der König der Literatur. Und das muss man sagen, dass die imposante Gestalt des Dramatikers dem Volk ungleich näher stand als der französisierende Romancier (Heinrich Mann), der die Deutschen belehrte, ohne sie leiden zu können. Darin, vor allem, heimelte Hauptmann seine Landsleute an, dass er im Grund unpolitisch war, ein Dichter, der seine Sache aufs Fühlen und Gestalten, nicht aufs scharfe Denken gestellt hatte. Das Leid der Armen, Zertretenen hatte sein Mitleid zum Klingen gebracht, mitunter, im historischen Schauspiel, sogar das leidige Schicksal der Nation. Jetzt war er alt und hatte sein bestes Werk getan; ließ sich`s aber gefallen, der Dichterfürst der Republik zu sein und bei ihren Staatsakten sein majestätisches Haupt zu zeigen. Als es mit ihr zur Neige ging, schwieg er; als sie es nicht mehr gab, kam er wohl ohne sie und erträglich aus mit ihren Mördern.
Noch kritischer schreibt Gordon A. Craig (Deutsche Geschichte 1866 1945, C.H. Beck, München, 2. Auflage 1999, Seite 694):
Aber keine Zwangslage vermag zu erklären, warum Männer wie Gerhart Hauptmann und Carl Schmitt, Martin Heidegger und Gottfried Benn, die eine anerkannte Stellung innehatten und breites Ansehen genossen, freiwillig zum Nationalsozialismus überschwenkten und damit den Propagandisten der Partei ein Argument gegen jene lieferten, die dem Regime vorhielten, es werde von den besten Köpfen und den bedeutendsten Künstlern des Landes abgelehnt
Man möchte argwöhnen, dass Hauptmann, gleich, welche Regierung 1933 an die Macht gekommen wäre, Anlass gefunden hätte, ihr seine Unterstützung anzubieten. Aus dem hageren jungen Radikalen von 1890, der mit seinem Stück Die Weber das Publikum schockiert und aufgerüttelt hatte, war mit den Jahren eine gewichtige und etablierte gesellschaftliche Figur geworden; stolz auf seine vermeintliche Ähnlichkeit mit dem größten Dichter Deutschlands, die er auf jede erdenkliche Weise herauszustreichen versuchte.
Ich bin nur ein Amateur, das heißt Liebhaber der Literatur. Deshalb scheue ich mich, die Aussagen der Gelehrten zu kommentieren. Nur so viel: Mir scheint, die Werke der Literatur und anderer Künste sollte man, zumindest gedanklich, von den Urhebern trennen. Ein Gedicht von Bert Brecht, Gottfried Benn oder Stefan George wirkt durch sich selbst. Es gibt nur gute oder schlechte Gedichte. Der sie schrieb, mag was immer gewesen sein. Mir sind gute Gedichte von Autoren, die ich politisch oder persönlich ablehne, lieber als schlechte Gedichte von Dichtern, mit denen ich in Fragen der Politik oder Moral übereinstimme. Jetzt aber Schluss mit Lieschen Müller- Literaturkritik. Ich kann im Weiteren nur höchst subjektiv berichten, was Hauptmann und seine Werke für mich bedeuten. Die Tatsache zum Beispiel, dass mir in der Schule beim damals noch selbstverständlichen Lesen der Novellen und Dramen Gerhart Hauptmanns zum ersten Mal meine schlesische Herkunft richtig bewusst wurde. Mein Vater, der aus Niederschlesien stammt, hat begeistert reagiert, als ich ihm über die Schullektüre berichtete, was bei meiner sonstigen Lektüre, Karl May und Agatha Christie, nicht unbedingt der Fall war. Er kannte ganze Passagen aus dem Biberpelz auswendig und erzählte dann viel aus seiner Jugendzeit, über das Riesengebirge, Liegnitz und Breslau. Und dann zählte er alle schlesischen Kurorte auf, die er kannte, darunter natürlich auch Bad Salzbrunn, den Geburtsort von Hauptmann. So hat der Schriftsteller dazu beigetragen, dass ich seit dieser Zeit meine schlesische Herkunft nicht mehr vergessen habe.
Die Geschichte des Bahnwärter Thiel, der seine zweite Frau und das gemeinsame Kind tötete, weil sein geliebter, erster Sohn aus der Ehe mit der verstorbenen ersten Frau wegen der Unachtsamkeit der Frau vom Zug überfahren wurde, habe ich damals sicher nicht verstanden. Heute weiß ich, zu welchen Verzweiflungstaten Menschen fähig sein können, wenn sie ihrem Leidensdruck nicht mehr gewachsen sind.
Der Biberpelz ist mir vor allem als Hörspiel mit Therese Giehse als Mutter Wolffen in Erinnerung. Meinem damals rebellischen Geist hat besonders gefallen, dass in der Komödie die staatliche Autorität die Eigentumsordnung nicht durchsetzt sondern frecher Mutterwitz siegt. So etwas beeindruckt einen Jugendlichen, der ich damals war, und der Siege über das Establishment gern gesehen hat.
Der realen Vorkommnissen im Schlesien des 19. Jahrhunderts recht nahe Text im Drama Die Weber hat mir in dieser Zeit gefallen, weil ich ihn als Aufruf zum Wiederaufleben der 1848 gescheiterten Revolution interpretiert habe. Das schien mir in die 60ger Jahre des 20. Jahrhunderts zu passen, worin ich mich gründlich geirrt habe. Heute berührt mich vor allem ein Satz aus diesem Stück: A jeder Mensch hat halt ne Sehnsucht, der auch in den Rand der bereits genannten Sondermünze eingeprägt ist.
Wegen dieser Erinnerungen schätze ich Gerhart Hauptmann auch heute noch. Ich bin nach Agnetendorf gefahren, ich war an seinem Grab in Hiddensee. Ich war bestürzt, als ich las (Als die Deutschen weg waren, Rowohlt, Reinbek, 2007), dass polnische Milizionäre schon kurz nach seinem Sterben ihre Genugtuung über seinen Tod auf einer Demonstration kundtaten. Umso mehr freut es mich, dass heute in Bad Salzbrunn ein Platz nach ihm benannt ist. Hauptmann soll unmittelbar vor seinem Tod in Agnetendorf noch gefragt haben: Bin ich noch in meinem Haus? Allen Lesern wünsche ich, dass sie auf diese Frage immer antworten können: Ja, ich bin in meinem Haus, in meiner Heimat.
Glatz, den 06.12.2012
Hermann Handlos